Gerhard Derflinger †

Nachruf auf em.o.Univ.-Prof. Dr.phil. Gerhard Derflinger

11.Oktober 1936 - 27. Februar 2015

Anfang Jänner dieses Jahres erreichte uns die Nachricht, dass unser geschätzter Emeritus, o. Univ. Prof. Dr. Gerhard Derflinger, der unserem Institut auch nach seiner Emeritierung eng verbunden blieb, schwer erkrankt war und wir hofften sehr auf seine baldige Genesung. Nun wurde uns die traurige Nachricht überbracht, dass Gerhard Derflinger am 27. Februar 2015 seiner Krankheit erlegen ist.

Gerhard Derflinger wurde am 11. Oktober 1936 in Wien geboren und maturierte 1954 an der Bundesrealschule Wien 16. Es folgte das Studium der Chemie an der Universität Wien, das er als einer der besten Absolventen der physikalischen Chemie abschloss. Dieses Fachgebiet, der Quantenphysik zugehörig, befasst sich mit der Quantenelektrodynamik größerer Moleküle, und erzielt, aufbauend auf mathematischen Methoden wie Operatoren auf Hilberträumen und Spektraltheorie dieser Operatoren, Forschungsergebnisse numerisch mit hohem Computeraufwand. Diese akademische Ausbildung legte den Grundstein zu Gerhard Derflingers lebenslanger Expertise als Computerexperte mit hohem mathematischem Anspruch. 1961 führte er etwa die ersten quantenmechanischen Berechnungen am Computer in Österreich durch.

Nach der Promotion im Jahre 1964 begann Gerhard Derflinger seine wissenschaftliche Laufbahn, nach kurzer Tätigkeit am Institut für Höhere Studien, als Assistent am Institut für Organische Chemie an der Universität Wien von 1965 bis 1967. Als entscheidende Weichenstellung für seine akademische Karriere erwies sich anschließend eine Assistentenstelle am Institut für Statistik der Universität Wien, wo großer Bedarf an Computerexperten mit hohem mathematischen Anspruch bestand. Mit seiner Arbeit zu Datenverarbeitung und mathematische Statistik wurde Gerhard Derflinger 1968 an der Universität Wien habilitiert.

1968 folgte er einem Ruf  als Professor für Statistik an die neu gegründete Hochschule für Sozial- und Wirtschaftswissenschaften in Linz, wo er im gleichen Jahr gemeinsam mit Adolf Adam und Hans Knapp die Technisch-Naturwissenschaftliche Fakultät begründete. Er übte das Amt des Prodekans dieser Fakultät aus und war in der Periode 1970/71 Rektor der Universität Linz.

Seine fachliche Expertise prädestinierte ihn zum Leiter des Rechenzentrums der Universität Linz und, als die Universität Linz das Studium der Informatik als erste österreichische Universität 1969 einführte, zum ersten Vorsitzender der Studienkommission Informatik.

1972 wurde er als Professor für Statistik an die Wirtschaftsuniversität Wien, damals Hochschule für Welthandel, berufen, der er bis zu seiner Emeritierung im Jahr 2005 und darüber hinaus eng verbunden blieb.

Durch die Übernahme von leitenden Funktionen und seine Mitarbeit in ungezählten Kommissionen erwarb sich Gerhard Derflinger auch an der Wirtschaftsuniversität hohen Verdienst in der universitären Selbstverwaltung. Bis zur Neuorganisation der Institute an der WU leitete er die Abteilung Angewandte Statistik und Datenverarbeitung und wurde wiederholt zum Vorstand des Instituts für Statistik gewählt, das er fürsorglich und äußerst korrekt unter dem Gesichtspunkt der Sparsamkeit leitete. Auch als Vorsitzender der Fachgruppe Geistes- und Formalwissenschaften über drei Funktionsperioden sowie als Leiter verschiedener Arbeitsgruppen erwies er sich als allgemein anerkannter und um einen Interessensausgleich bemühter Koordinator der allmählich knapper werdenden Geldmittel.

Gerhard Derflinger trug maßgeblich zur Lehre in der Statistik bei und wird Generationen von WU-Absolventinnen und Absolventen, darunter einigen der heutigen WU-Professoren, als hochgeschätzter Universitätslehrer in Erinnerung bleiben, der es verstand, komplizierte Zusammenhänge durch klare Darstellung zu veranschaulichen. Die von ihm betreuten Diplomarbeiten in einem Fach, das von Studierenden der Wirtschaftsuniversität wegen der mathematischen Bezüge schon immer als schwierig empfunden wurde, füllten mehrere Regalfächer in der Institutsbibliothek. 

Als Forscher war Gerhard Derflinger in besonderer Weise von der Mathematik begeistert und erkannte  schon früh das enorme Potenzial der aufkommenden Computertechnik. Er nahm in Österreich eine Vorreiterrolle bei der Anwendung statistischer Methoden auf gesellschaftlich relevante Probleme, wie Wahlprognosen oder Arbeitsmarkterhebungen, ein. Dabei war ihm sowohl eine theoretische als auch eine substanzwissenschaftliche Fundierung statistischer Modelle ein besonderes Anliegen. Die Vielseitigkeit der Fragestellungen, für die er mit Hilfe von Mathematik und Computertechnik substanziell neue und praktisch anwendbare Methoden entwickelte, ist bis heute beeindruckend. Seine Hauptthemen betrafen in den Anfängen chemische Fragestellungen, wenig später Probleme der computergestützten Umsetzung statistischer Verfahren, insbesondere der Faktorenanalyse, und in den letzten 25 Jahren hauptsächlich neue Methoden zur Erzeugung von Zufallszahlen. Er hatte einen entscheidenden Anteil an der Entwicklung und Implementierung der automatischen transformed density rejection Methode und an der automatischen numerischen Inversionsmethode.

In Würdigung seiner Verdienste wurde Gerhard Derflinger 1985 mit dem Universitätspreis der Wiener Wirtschaft und 1999 mit dem Großen Goldenen Ehrenzeichen für Verdienste um die Republik Österreich ausgezeichnet.

Dass Gerhard Derflinger nun von uns gegangen ist, macht uns betroffen und lässt viele Erinnerungen aufsteigen:

Gerhard Derflinger, oder wie er sich selbst im internen Postverkehr abkürzte, GD, bleibt seinen Mitarbeitern als korrekter Vorgesetzter in Erinnerung, der durch sein Vorbild führte. Er kam jeden Tag in der Früh ans Institut und verließ es erst am späten Nachmittag oder abends. Urlaub kannte er nicht.

Dankbar erinnern sich seine Mitarbeiter an die große Freiheit, mit der er sie, auch in ihren ersten Anfängen als Wissenschafter, zu Werk gehen ließ. Viele administrative Aufgaben in seiner Abteilung übernahm er selbst, um seinen Mitarbeiten genügend Zeit für ihre wissenschaftliche Arbeit zu lassen.

In den universitären Gremien bleibt Gerhard Derflinger als durchaus kritischer Geist in Erinnerung, der Konfrontationen nie aus dem Weg ging. Er wurde aber auch wegen seiner Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit  allgemein sehr geschätzt.

Nach der Emeritierung kümmerte er sich um seine immer größer werdende Familie, die verbleibende Zeit widmete er bis zuletzt der Forschung und arbeitete weiter in internationalen Kooperationen mit. Seine Koautoren werden die Begeisterung und Ausdauer, mit der er sich bis zu seiner Erkrankung im Herbst 2014 mit den mathematischen Details neuer Methoden und deren Implementierung in lauffähigen Computerprogrammen beschäftigte, nie vergessen.

Gerhard Derflinger war ein vorbildlicher Professor und  ein vielseitiger Humanist, der sich vor allem der  Forschung verpflichtet sah.  Er war ein intellektuell ungemein interessanter und anregender Kollege, der aber nie bequem und zu Kompromissen bereit war, die seinen intellektuellen Ansprüchen entgegenstanden. Seine Begeisterung für die Forschung und seine große Bescheidenheit werden uns immer ein Vorbild bleiben.

Wir werden Gerhard Derflinger vermissen und ihm stets ein ehrendes Andenken bewahren.

 

Sylvia Frühwirth-Schnatter im Namen aller Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Institutes for Statistics and Mathematics der Wirtschaftsuniversität Wien

 

 

 

 

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